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Angelos Wahrheitslieb (9)

Vierter Nebeltag im Graumantel 1996

Überall Finsternis, Dunkelheit und unendliche Schwärze.
Lichtlosigkeit ist voller Geheimnisse und wilder Dämonen.

Unsichtbare Augen überall, beobachten mich, Fratzen gaffen.
Besorgt wende ich mich um, überall Schwärze, keine Hoffnung.
Ich habe Angst, fürchte mich vor der Wildheit geifernder Tiere.
Ein Biss, ein Hieb, reissende Zähne, sie erscheinen mir überall.
Ich will fliehen und kann es nicht, Finsternis hüllt mich ein.
Seltsame Gerüche beissen in der Nase und widern mich an.
Ob Blut, ob Pestilenz, die Luft scheint schwer und erfüllt damit.
Vor mir ein bodenloser Abgrund. Ich weiss nicht, wo er endet.
An meiner Seite scharfe Klingen, es kann so sein, ich erahne sie.
Die Dunkelheit, sie lähmt mich, lässt mich mit der Furcht allein.

So schliesse ich die Augen und träume von dem jungen Frühling.
Die aufgehende Sonne und der frohe Gesang der Vögel überall.
Sanfter Wind streift meine Arme, die Luft duftet betörend süß.
In der Nähe, ein kleiner Bach, plätschert frisch, klar und schön.
Nackte Füsse auf weichem Gräsergrund, Schmetterlinge im Haar.
Das Summen der Bienen auf der Wiese und überall bunte Blumen.
Alles erscheint hell und klar und voller Leben, alles ist mit mir.
Kleines Reh in der Ferne trinkt kühles Naß, am kristallenen Bach.
Weiße Wolkenbäuche ziehen lautlos vorbei auf blauem Grund.
Durchwirkt ist alles, mit sprudelndem Leben und voller Pracht.
Das Glück in mir, es frohlockt und singt, und es lächelt mich an.
Das muntere Licht, es lässt mich strahlen und unbekümmert sein.

 Doch dort, an dem Baum in meiner Nähe, was sehe ich an ihm?
Vor dem Licht der Sonne versteckt, da ist ein finsterer Schatten.
Er liegt fett und träge auf dem Gras, vor lauter Angst ist es ergraut.
Ich starre ihn an, bin vor Schreck gelähmt, das Herz pocht im Hals.
Das kann nicht sein, es darf nicht, niemals hier, in meinem Reich.
Zitternde Hände verbergen meine Augen, zum Schutze der Sonne.
So bin ich verzweifelt, sehe eine Bastion in meinem Herzen bedroht.
Furchtbar und übel qualvoll ist die Angst vor dem schwarzen Gebilde.
Das Singen der Vögel, das Summen der Bienen, alles das, verstummt.
Die Stille, die blanke Angst, sie zwingen mich zum Öffnen der Lider.
Ganz zaghaft, voller Scheu blicke ich mich um, die schwarzen Weiten.

 Ein leichtes Rot am Horizont der Finsternis, ein schwaches Glimmen.
Gebannt sehe ich es an, welch Wunder, eine gleißende Kugel entsteht.
Ein schwaches Glitzern vor meinen Augen, meine Finger ganz grau.
Dunkelheit und Licht, ein gewaltiger Kampf, völlig still, doch atemlos.
Lauter Gesang der Vögel, Publikum und Botschafter des nahenden Tages.
Die strahlende Kugel, sie steigt auf, zwingt die Finsternis in die Nacht.
Erwachen die leuchtende Farben, das Leben, die Luft im blühenden Licht.
Mein Herz, es lacht und reckt sich der weiten Freiheit des Tages entgegen.
Die Schwere der Luft, sie füllt sich mit dem betörenden Duft der Blumen.
Schmetterlinge flattern aufgeregt, zum frischen Blau des Himmels empor.
Vergessen die Angst und der Bann, entfacht das pure Leben auf der Welt.
Ich schliesse die Augen, so frei, so unbekümmert und voller Lebensmut.
Zucke erschreckt zusammen:

Hier steckt sie nun, hat sie sich verkrochen, die Finsternis...


Was ist die Finsternis schon mehr, als nur ein Ort ohne Licht?
Gäbe es kein Licht, so gäbe es auch keine Finsternis.
Das ist wohl eine unbestreitbare Feststellung.
Das Eine, es kann einfach nicht ohne das Andere sein, doch selbst ohne jeglichem Rest von Licht, wird sich unsere Erde weiter drehen, wenn auch ohne uns.
Wir Menschen brauchen das Licht, um leben zu können. Das Licht bedeutet Leben. Unser Leben ist verdorrt und vergeht ohne das Licht. Die Finsternis ist jener bedrohlich wirkende Ort, an und in den wir nicht blicken können, den unsere Augen und Sinne nicht erreichen, ob sie es wirklich nicht können oder wir es nur nicht wollen.

Der Kamin ist erloschen, und mein kleines Haus steht in der Finsternis.
Doch ich liebe sie, die Finsternis, die Dunkelheit, die alles so ungemein gefährlich und unberechenbar erscheinen lässt, weil wir es nicht sehen können. In der Lichtlosigkeit kann ein einfacher, ganz kleiner Nagel zu einer Bedrohung für unser Leben werden. So sehr sind wir Menschen auf das Sehen fixiert, daß wir blind rasch völlig hilflos werden. Nur jene Menschen, welche ohne Licht geboren wurden, lassen die Angst nicht an sich heran und nur die reine Vorsicht walten. Sie sind schon seltsam, diese Menschen. Sie leben mit den wichtigen Lösungen zu ihren Lebensfragen eng zusammen, ohne sie sehen zu können. Daher ist es schon sehr fatal zu glauben, die Finsternis sei einfach nur durch ihre Lichtlosigkeit zu definieren. Inmitten von gleissendem Licht sind wir ebenso blind und hilflos, wie in absoluter Dunkelheit, und noch heute ist es nun nicht möglich, ganz offensichtliche Wahrheiten zu erkennen, obwohl sie sich direkt vor uns auftürmen. Ist dadurch denn nicht eher als Finsternis zu verstehen, was wir nicht in der Lage sind, zu erkennen und was sich unserer Denkfähigkeit entzieht?

Finsternis umgibt uns doch wirklich bei jeder Entscheidung im Leben, deren Antwort für uns zunächst ungewiss ist, wir sie jedoch unbedingt treffen müssen. Es ist das gleiche Gefühl, als würde man in der Dunkelheit stehen und vorsichtig einen Fuss vor den anderen setzen. In der Finsternis ist unsere Intuition das Licht, ein ganz feiner Strahl, der uns führt und dem wir nicht selten unser Leben anvertrauen. Es wäre schön, wäre es so. Leider ist es das nicht. Es ist noch sehr viel schlimmer.

Ich stehe auf und gehe zum Kamin, um mit der letzten Glut, ein wenig Zunder zu entfachen und einen grossen Holzscheit nachzulegen.
Ganz vorsichtig bin ich.
Es ist nicht gut, ein wärmendes Feuer unbedacht und wegen mangelnder Vorsicht erlöschen zu lassen. Die flinken Salamander, jene Naturgeister des Feuers, sie sind sehr dünnhäutig und ungemein leicht reizbar. Sie tragen uns jede Unvorsichtigkeit ewig lange nach, ganz anders als die anmutigen Nereides, jene seltsamen Geister des Wassers, die sich über jede kleinste Unvorsichtigkeit sehr freuen, da sie es einfach nur lieben, sich auszubreiten und dann in den Kreislauf aufzusteigen.
Wie dem auch sei, der Zunder brennt jetzt knisternd und auch zur Freude der Salamander, und ich lege das trockene Holz an seine Seite.
Wie schön es doch ist, wenn sich meine gute Stube wieder mit ein wenig Licht füllt und das Flackern des Feuers das Licht und die Dunkelheit der Schatten tanzen lassen. Gerade auch zur Zeit des kühlen und nebligen Graumantel ist es wunderbar, dieses muntere Tanzen zu beobachten und die wohlige Wärme zu spüren.

Als Hexe Angelos Wahrheitslieb kann ich es kaum verstehen, wie man heute nur noch mit Strom und Glühbirnen leben kann. Alles erscheint in ihrem Licht bleich und kalt, als würde man den Tod beleuchten. Es ist zudem so, als würde man seinen Geschwistern die Tür weisen und sich all dem Leben und dem Glück verschliessen, welches von Mutter zu unserer aller Freude geschickt wird. So viele Sinnesreize mehr bringt schon eine einfache, nervöse Kerzenflamme, so dass die Menschen sie immer wieder verwenden, wenn sie einen schönen und gemütlichen Abend bei sich, in ihren tristen Wohnwaben aus Beton, verbringen wollen. Schon ein einfacher, schmaler Kerzenschein, er ist das Zeichen für ein abgestimmtes Zusammenspiel so vieler Naturgeister und Naturphänomene, dass man regelrecht von einem kleinen Wunder sprechen kann, sieht man ihn. So spielen die samtenen Sylphen der Luft und die Salamander des Feuers munter miteinander, immer um die Erkenntnis des Lichtes und die Unwissenheit der Dunkelheit herum, so das wir Menschen schon alleine durch das Beobachten, von ihnen so vieles lernen könnten.
Doch wir Menschen wollen nicht, es sei denn, sie sind Hexen.
Das menschliche Leben ist so sehr voller Dunkelheit.
Das ist seine Natur.

Mit seinen Augen hat das nur sehr wenig zutun. Der Mensch sollte lernen, auch in der völligen Finsternis sehen zu können und sie für sich zu erhellen. Doch er zieht sich scheu zurück und kauert völlig verängstigt auf der ersten Stufe seiner Entwicklung. Er kauert dort, bis die Finsternis ihn holt. Die ganz grosse Finsternis, beinahe ein Licht fressendes Schwarzes Loch, aus Sicht der Menschen, das ist sein Tod. Niemand ist von dort zurückgekehrt, der länger als nur wenige Minuten weg war. Da gibt es nicht viel stabiles Fundament für den Glauben, obwohl eine große Zahl weiser Menschen schon gehört haben, die überzeugt meinten, daß wir an dem Ort der grössten Finsternis etwas üppig Strahlendes und unbeschreiblich Helles finden werden. Viele denken bei dieser Formulierung sogleich an Gott und seine wunderbaren Himmelsscharen, doch an einen Gott habe ich bei diesem Satz eigentlich nicht unbedingt gedacht. An dem Ort der grössten Finsternis werden wir die friedenstiftende Erleuchtung und die beruhigende Erkenntnis finden. Dort werden wir plötzlich alle Wahrheiten begreifen können, die wir nie wahrnehmen konnten, da sich das Verlies unseres Körpers in eine neue Aufgabe und eine neue Struktur auflöst. Nicht viel anders, so glaube ich jedenfalls, sollte man die beliebte Beschreibungen von dem finsteren Tunnel sehen, an dessen Ende das gleissende Licht auf die Sterbenden wartet. Die strahlende Wahrheit zu erkennen, das scheint das Ziel zu sein. Will man in dieser allumfassenden Wahrheit einen oder den Gott sehen, so nur zu, da mir dieses Bild deutlich besser gefallen würde, als ein barockhaft gestaltetes Bild eines gütig dreinblickenden Mannes mit Rauschebart.

Unglaublich oft versuchen sich Menschen der so beeindruckend modernen, westlichen Welt Gott jedoch genau so zu erklären. Das wir Hexen jetzt immer wieder und wieder des Aberglaubens und des Frevels an Gott beschuldigt werden, erscheint da in meinen Augen nicht nur abstrakt, sondern nahezu anmaßend.
Dennoch ist die Finsternis nicht zweifelsfrei bestimmbar, auch wenn es sich der modern denkende Mensch so sehr wünscht. So kann sie plötzlich eintreten, ganz individuell und unerwartet, als ein klassisches Werk der Hoffnungslosigkeit.
Eine alte und wirre Frau, so wie ich es offenbar bin, braucht denn diese Frau überhaupt noch Hoffnung für ihren kläglichen Rest an Leben?
Ich wische das Kondenswasser von der beschlagenen Scheibe beim Tisch, um in die Dunkelheit des Waldes vor dem Haus zu blicken.
Hoffnung, was ist schon Hoffnung?
Ist sie nicht mehr, als eine schöne Phantasie, der Traum von einem kleinen Schimmer Licht, in der vor uns klaffenden Dunkelheit?

Wenn man sich wie ein einfacher Gast auf dieser Welt fühlt, wie ein ungebetener Gast der Menschen, die um einen herum offenbar nur noch damit beschäftigt sind, möglichst leidensfrei zu sterben, dann ist es die Hoffnung, die einen am Leben erhält. Es gibt das Licht in der Dunkelheit, auch wenn es manchmal schwer zu entdecken ist. Doch wir selbst sind es, die dieses Licht am Brennen erhalten, auch wenn alles um uns herum noch so aussichtslos und finster erscheint.
Auch eine schlechte Münze hat zwei Seiten, wie auch alles im Leben der Dualismen liebenden Menschen offenbar mindestens zwei Seiten besitzt.
Doch in der Finsternis, da kann man diese beiden Seiten nicht mit seinen Augen sehen, und oftmals will man sie auch nicht sehen, da ohne einen kleinen Schimmer von Licht, jede noch so schöne Seite einfach nur noch schwarz erscheint.

Vertrocknetes Geäst, durch das der eisige Wind rauscht.
Ich liege völlig nackt und hilflos auf gefrorenem Boden.
Kälteschmerz besiegt das Zittern, um nur ein wenig Wärme.
Eine finstere Welt ist um mich. So muss es wohl sein.
Hastiges Geflüster reibt an meinen entzündeten Nerven.
Grobe Worte schlagen tosend gegen meine einsame Seele.
Nach Luft ringe ich und sauge die Kälte in mich hinein.
Meine Augen schmerzen sehr. Ich will sie nicht öffnen.
Keinen Blick möchte ich in die Trostlosigkeit wagen.
Wenn alles noch eine Ahnung ist, so kann nur ein
einziger Blick, den Schmerz der Gewissheit entfachen.
Kauernd liege ich auf hartem Boden, die Augen geschlossen.
Ich presse verbissen die Lider zusammen. Es ist so bitter kalt.
Keinen Blick will ich wagen, nicht auch nur einen einzigen.
Ich bleibe der Ahnung ergeben und trotze mit geschlossenen
Augen der Gewissheit. Eine finstere Welt ist um mich.
Da bin ich mir sicher.

 Ich bin eine alte Frau, nicht mehr und nicht weniger...
Doch fast mein gesamtes Leben habe ich in völliger Finsternis verbracht.
Die Menschen rauben mir jegliches Licht und verseuchen mit Beharrlichkeit und Akribie meine Luft zum Atmen. Wie in dichtem Geäst in schwarzer Finsternis, so ecke ich an ihre spitzen Bemerkungen und scharfkantigen Worte, als wären sie kantiges und dorniges Geäst, auf meinem Weg durch den verworrenen Wald des Lebens.
Früher erschien mir alles trostlos und unendlich bitter.
Doch heute lebe ich mit der Dunkelheit um mich herum, wie ein fauler Hund in seinem alten Schlafkorb sein Leben verbringt.
Es ist nicht die schäbige Münze in meiner Hand, dessen zwei Seiten für mich von Wichtigkeit sind, sondern es ist die Münze der Erkenntnis über das Licht und die Finsternis, die mir so unendlich bedeutungsvoll erscheint.
So lebe ich mit der Finsternis an meiner Seite und mit der Gewissheit tief in mir, dass es zumindest noch eine andere Seite geben wird, auf die es wohl ankommt.
Es ist das Streben nach dem Licht der Erkenntnis.
Doch was wäre ich ohne die Finsternis?

Die Finsternis ist zu unrecht beschuldigt, mir und allen anderen Menschen schaden zu wollen, als wäre sie ein lebendiges und ausgehungertes Raubtier. Sie hat noch niemandem wirklich geschadet. Ohne sie gäbe es keinen Schutz und ohne sie, da wären wir uns nicht des Lichtes bewusst.
Die Finsternis selbst, sie schädigt niemals.
Wir selbst sind es und unsere Unfähigkeit im Umgang mit ihr ist es, die uns in der Finsternis stolpern, anstoßen und nicht sicher sehen lässt.
Letztlich ist es wohl eher so, dass wir uns nur vor dieser Begrenztheit fürchten und nicht vor der Dunkelheit an sich. Früher waren diese Ängste sicher durch Instinkte begründet, aber heute sind wir aufgeklärt und fortgeschritten, und wohin auch immer wir geschritten sind, wir fürchten uns in der Dunkelheit stets vor uns selbst am meisten.

So, ich gehe jetzt schlafen.
Ich bin es müde geworden, in die triste Dunkelheit vor der Hütte zu blicken und mich selbst darin zu sehen. Ich öffne wohl viel lieber meine alten Augen im Schlaf, um die wunderbaren und mit Licht überfluteten Sonnentäler meiner Jugend noch einmal erleben zu dürfen, bevor die Menschen ihren Schatten auf mein Gemüt geworfen haben.
Nein, ich hasse die Menschen nicht.
Ich mag sie eigentlich sogar ein wenig.
Sie besitzen einen ganz eigenen Charme, diese Menschen, wenn sie nur möglichst weit weg von mir bleiben und ich sie nur aus weiter Ferne betrachten muss.
Heute geht es einmal einfach so ins Bett. Ich wasche mich morgen, in aller Frühe. So müde bin ich geworden. Das Alter lässt mich schnell ermüden. Früher hätte ich nie gedacht, dass es so ist, aber heute erlebe ich es am eigenen Körper. Ich setze noch schnell meine alte Nachthaube auf, jenes gute Stück, von der die kleinen Motten einfach nicht lassen können und freue mich auf das nächtliche Wiedersehen mit alten Bekannten in einer anderen Welt.

Verzeiht mir, ich bin ein Mensch.
So flüstere ich mir selbst zu.
Ich bin schwach und habe keinen starken Willen.
So bin ich voller übler Fehler und nicht in der Lage zu erkennen, was ich alles mit meinen Worten zerstöre.
Mein Leben ist kurz, so muss ich mir nehmen, was ich möchte.
Ich bitte um Verzeihung bei den Kindern und Enkelkindern auf dieser leuchtend blauen Kugel im All, da ich ihre Welt ebenso zerstöre, wie ihre Eltern und Grosseltern.
Aber ich bin schwach und habe eben wirklich keinen starken Willen.
Nur ein Mensch bin ich, und daher darf ich alles das tun, als wäre ich ein kleines Kind, das immer wieder fällt und sich dabei seine dünnen Beinchen aufschürft.

Wie ein kleines Kind, so lehne ich Verantwortung für mein Handeln ab und schiebe es auf die anderen, schiebe es auf das Kollektiv, in dem die Schuld versinkt, wie in einem tiefen Sumpf. So lernt man es heute in den Schulen.
Sind einige Kinder in der Schulklasse nicht brav und folgsam, muß die ganze Klasse nachsitzen und leiden. Kann das Kollektiv nicht tragen, was zu tragen ist, so gibt es ein übermächtiges Wesen, einen Gott, eine Art Elternteil für das Kollektiv, das die Schuld bereitwillig trägt und uns wohlwollend über den Kopf streichelt, jedoch natürlich nur fiktiv, nur in unseren Gedanken, weil wir es uns wünschen. Das ist die Pflicht Gottes.
Was dann letztlich bleibt, das ist die reine Zerstörung und eine zerstörte Welt für unsere Kinder und Enkelkinder, selbst wenn wir uns für diesen Wahnsinn nicht mehr schuldig fühlen, da Gott uns doch wieder und wieder verziehen hat.
Alles wird gut.

So sind sie, die Menschen, und ich bin auch nur ein Mensch, wenn auch nur ein kläglicher Rest von Mensch. Doch ich bemühe mich stets, um nicht ganz so sehr sinnlose Pfade und suche immer wieder bewusst nach dem, was nicht alles zerstört und nach jenem, was mir selbst neu ist und auch nach der Schönheit unserer Mutter. Zeige mir, wer deine Eltern sind, und ich zeige dir, wer du bist.
Meinen Vater trage ich daher tief in mir in meinem Herzen, und meine Mutter ist überall, ist alles das, was mich am Leben erhält.
Auf diese einfache Art und Weise bin ich auch nicht mehr, als nur ein herumirrendes Kind, das sich nach der Liebe und der Geborgenheit seiner Mutter sehnt und jeden freien Augenblick nach Zuneigung und Zuwendung buhlt.

Wie dem auch sei, so liege ich jetzt hier in meinem Bett mit meiner alten Nachthaube auf dem grauen Kopf und denke über solche verrückten Dinge nach. Wäre es nicht besser, ich wäre so eine alte Frau, wie alle alten Frauen so sein sollen, eben verwirrt, unbeholfen und nur mit den Gedanken bei den eigenen Kindern und der eigenen Familie?

Doch alles dieses habe ich nicht.
Das einzige was ich habe, das sind meine Gedanken und meine Erfahrungen, meine Empfindungen und meine Sehnsucht, nach Hause zu kommen. Alles diese Dinge sind mir meine Kinder, und sie sind mir sehr an mein Herz gewachsen. Sicher wäre das wohl besser, würde ich mich alt fühlen, verwirrt und unbeholfen, würde ich eine Bilderbuchfamilie haben, so eine von dieser, an die es lohnt, zu denken und an Freunde, die es wert sind, sich Sorgen um sie zu machen.

Wie sehr sehne ich mich nach liebevoll gehauchten Worten, nach sanften, warmen Berührungen und glitzernden Freudentränen.
Wo ist sie geblieben, jene Ehrlichkeit, Mensch sein zu dürfen und dieses auch zu wollen?
Vor dem Sterben scheint sie erbärmlich verkümmert und hoffnungslos verdorrt zu sein. Wertvolle Augenblicke betäuben und das Leben verdrängen, das ist sie wohl, die allseits so grosszügig angewandte Torheit unserer Zeit.
Ich sehe in deine Gesicht.
Du lächelst mich an.
Doch sonst ist da nichts.
Deine Augen glänzen, wirken dennoch leer.
Lausche Deinen Worten voller Aufmerksamkeit, doch sie sagen nichts.

Wie die anderen sind, so bist auch du. Enttäuschung ist das und doch nicht wirklich.
So wende ich mich um, sehe in ein neues Gesicht, dann in ein weiteres - es werden viele Gesichter sein, bis sich die strahlende Sonne Lebens, der Nacht ergibt.
Jeden Tag das gleiche monotone Spiel.

Jeden Morgen ein neuer Beginn, als wäre dieses der Sinn meines Lebens.
Es ist der Sinn, in reizlose Gesichter zu blicken und auf leere Worte zu hören, stets unbekümmert der Bedeutungslosigkeit entgegen.

Sitze ich am Abend vor einer einfachen Kerze, so fasziniert mich ihr feines, schnörkelloses Flackern und ihr leises, raffiniertes Zischen mehr, als das Gemurmel der menschlichen Einheitsmassen vor dem Fenster und jenseits der Waldgrenze.
Ich habe mich damit abgefunden, wohl doch nur ein einfacher Gast auf dieser Welt zu sein. So rauscht die Zeit gestaltloser Gemeinsamkeit an mir vorbei.
Ich verstehe nicht, und sie verstehen nicht.

Ich schreibe hier über ganze Welten, in einander verwoben und doch so weit von einander getrennt.
Kein Verstehen, kein Interesse, Gleichgültigkeit und Hohn, so vieles ist es, was uns trennt. Bin ich denn kein Mensch und vielleicht doch eher ein Wesen, aus einer anderen Welt? Nein, wohl nur der Gast bei dem nebligen und kalten Graumantelfest einer sterbenden Rasse.

Ich möchte nicht mehr nur, ein ungebetener Gast sein, ein Gast, den man treten und verletzen kann, wie es einem beliebt. So will ich kein Gast mehr sein, dem man die Luft zum Atmen und das Wasser zum Trinken nicht gönnt, nur weil man eben ein wenig anders aussieht, anders denkt und sich entschlossen hat, anders zu leben. Ich möchte nach Hause gehen.

Endlich will ich an jenen Ort heimkehren, an dem ich frei bin, an dem die Luft frisch und sauber schmeckt, man jeden Atemzug lieben kann, die Lebewesen mich freudig und ohne Furcht anstrahlen und die Freude über das Leben in voller Blüte steht und allgegenwärtig ist. Ich will nicht mehr begründen müssen, warum ich bin, warum ich hier bin und warum ich so denke und fühle, wie ich denke und fühle. Ich will nicht mehr jeden Tag erklären müssen, warum ich meine Art zu Leben so sehr liebe, und warum ich so bin, wie ich bin.
So mag ich nicht mehr in keifende und missgünstige Gesichter blicken müssen, sondern mit mir selbst in Frieden leben können.
So würde ich endlich die Ruhe finden, um aufzubrechen, zu all jenen Orten und Zeiten, an denen ich lernen kann, das Sein zu verstehen.
Jeden Abend bettle und bitte ich dich sehnlichst, meine liebe Mutter, appelliere ich an deine Güte und Grossherzigkeit, mich von dem Auftrag und der Rolle zu entbinden, ein Gast bei den Menschen zu sein.

So fliessen Tränen in das Kissen, warm und salzig, und voller Trauer bin ich, allein in dieser Finsternis zu sein.
Dabei schweift mein Blick niemals von dem feinen Lichtstrahl ab, der die Dunkelheit in mir zerteilt und mich hoffen lässt.

So will ich ab heute nicht mehr die Hexe Angelos Wahrheitslieb sein, sondern eine alte und in sich gekehrte Hexenfrau mit dem Namen Mutterhoff Dunkeltrotz, ein offenbar tiefsinniges und seltsames Wesen aus dem Wald jenseits der Stadt.

Autor: © Alexander Rossa 2019

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