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Album des Windes - Kurzgeschichten

Am Abgrund

 

Aussichtslosigkeit und Finsternis als eine Vision des Grauens...

Wenn die letzten Strahlen der Sonne erloschen sind, begebe ich mich zum Meer. Ich stehe an den steilen Klippen ganz weit oben und blicke über die finsteren

Wasser. Unter mir höre ich das Rauschen der kalten Brandung, die sich kraftvoll und mit lautem Getöse an den schroffen Felsen bricht. In der Ferne sehe ich, wie der Sternenhimmel in der Schwärze des Meeres versinkt. Keine Vögel gleiten mehr durch die Luft. Kein Kreischen der Möwen ist zu hören. Kühl schlägt mir die Brise der dunklen Wasser in mein Gesicht.

Dein Gesicht, es wirkt fahl, ganz grau und zeigt sich so sehr blass. Der Glanz deiner Augen, er scheint auf ewig verloren. Das verzweifelte Flehen in deinem Blick, es gleicht einem nicht enden wollenden Schrei der Verzweiflung. Du bist alleine, und ich bin alleine, dort an jenem Ort, an dem wir sind. So soll es nicht sein. Es darf nicht sein. Die Sehnsucht nach dir, sie lässt mich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sie ist bohrend und frisst sich gierig durch mein Herz. Ich vermisse dich so sehr. Wir gehören zusammen. Ich liebe dich.

So stehe ich jeden Abend an dieser Stelle und blicke hinaus auf die Welt der Finsternis. Ganz nahe am Rand der Klippe stehe ich aufrecht und unsicher. Ich spüre den Wind, wie er an meiner Kleidung zerrt und zieht. Es gibt Nächte, an denen zupft die Luft nur ganz zaghaft an mir. Manchmal jedoch, da reisst der Wind brutal und unwirsch an meinen Körper. Heute drückt mich die Luft behutsam auf das Land. Nur ab und zu, da scheint dieser kalte Nachtatem mich von den steilen Klippen fort und regelrecht in das Tosen der Brandung stürzen zu wollen. Doch genau das, es ist mein Wunsch.

Ich stehe ganz nahe am düsteren Abgrund, habe die Augen geschlossen, weiss gut um die Gefahr. Ich vertraue dem Schicksal des Augenblicks. Der Wind drückt gegen meinen schwankenden Körper, scheint mich ein wenig zum Narren zu halten. Aber ich bin hier im Dunkel der Nacht an dieser Klippe und harre einfach nur aus, höre auf jenen geheimnisvollen Gesang, den die nächtliche Böe mir in die Ohren zischt. Es scheint dann, als streichelte mir der Tod mein Trommelfell.

In der Nacht verweile ich dort und rechne stets damit, in die tosenden Fluten zu stürzen. Ein einziger, kraftvoller Windschlag reicht aus, um mich in die ungewisse Tiefe fallen zu lassen. Ich würde aufgefangen, wo nur das eisige Sterben auf mich warten wird. Ich blicke an mir hinunter auf meine Füße und sehe, wie sie ganz unsicher auf dem kargen Boden schwanken. Nur wenige Kuppen sind sie von der unheilvollen Kante entfernt, meine Hände, so rot und ganz kalt, wie sie nun sind. Feiner Regen peitscht mir in das Gesicht.

Nein, ich hege nicht den klaren Wunsch sterben zu wollen oder mich zu verletzen. Doch sehne ich mich danach, endlich mein Leben zu spüren. In der Finsternis und der Schwärze der Nacht und im Sog des Unberechenbaren, dort überall trete ich meinem Schicksal mutig und erwartungsvoll entgegen. Keine schnatternden und gaffenden Menschen sind nun bei mir und stören die schlichte Zweisamkeit. Die Frage nach der Bedeutsamkeit von allem, sie ist in diesem Augenblick restlos geklärt. Es offenbart sich mir die Realität, behutsam eingebettet in dem Flüstern des Windes, der mir in meinen Ohren liegt. Er bestimmt über mein Leben und meinen Tod, so wie er es jeden Augenblick, für uns alle bestimmt. Er ist mein Schicksal.
 
Nur bin ich hier und an diesem Ort mit mir und dem Wind alleine. Nur er und ich, ein einsamer Austausch zwischen Seele und Schicksal. Es ist nicht der schiere Wahnsinn, der mich antreibt, sondern nur der brennende Wunsch nach Klarheit und vollkommener Ehrlichkeit. Beides sind Eigenschaften, die man bei den meisten Menschen wohl vergeblich suchen wird.

An diesem Abgrund stehe ich, unmittelbar vor meinem grausamen Tod. Mein wichtigstes Bestreben ist es, endlich die Wahrheit begreifen zu können. Die direkte Konfrontation mit der absoluten Wahrheit, sie steckte doch schon immer voller Gefahren für den Leib und für die Seele. So war es doch schon immer bei den Menschen. Tragen wir Wahrheiten in unseren Herzen, so meinen viele Schläfer, in uns den blanken Wahnsinn erkennen zu können.

Doch viele von ihnen, sie suchen doch selbst ihr ganzes Leben lang nach Wahrheiten, ohne sie jemals zu finden. Sie quälen sich dabei durch Schicksalsschläge, Trauer und viele Entbehrungen. Immer sind sie auf der Suche nach dem Begreifen von wahren Inhalten des Seins. Was also sollte mich daran hindern, die Wahrheit hier und an diesem unbehaglichen Ort zu suchen? Nur das Schicksal kann mir die Wahrheit erklären, sie mir offenbaren. Hier an dieser unbehaglichen Klippe und als einfacher Gespiele des Windes, da werde ich mich endlich direkt und ohne Umwege dafür öffnen können.

Ich stehe daher immer wieder und wieder an den steilen Klippen. Ganz weit oben stehe ich, im Angesicht des Todes und blicke über das Getöse des finsteren Wassers. Unter mir höre ich jeden Tag neu, das bedrohliche Rauschen der eisigen Brandung, die sich kraftvoll und mit lautem Krachen an den schroffen Felsen bricht. Ich warte dabei geduldig auf jenen Augenblick, bei dem ich endlich meine Wahrheit erkenne.

Autor: © Alexander Rossa 2019

Links zum Thema
Wikipedia: Depressionen
Sueddeutsche.de: Wege aus der Depression

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